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5.   Ghazâlîs Auseinandersetzung mit dem Sûfismus

 

Nachdem sich Ghazâlî mit den Lehren und Systemen der Mutakallimûn, der Philosophen und der Bâtinîya beschäftigt hat, wendet er sich - so beschreibt er es im Munqidh - dem Sûfismus zu. Bereits vor diesem Zeitpunkt hatte er schon Kontakt mit Sûfîs: Der Freund des Vaters, dem er und sein Bruder anvertraut wurden, war ein Sûfî und auch sein Lehrer al-Dschuwainî stand den Sûfîs sehr aufgeschlossen gegenüber. Sein Bruder Ahmad war selbst ein Sûfî geworden. Nun begann er jedoch, sich eingehend mit dem Sûfismus zu befassen, wobei er sich zunächst an die Theorie hielt und ihre Schriften las. Dabei kam er bald zu der Einsicht, "daß man zu ihren spezifischen Eigenschaften nicht durch Studium, sondern nur durch Schmecken, Erleben und Verwandlung der Eigenschaften gelangen kann." (Der Erretter, S. 41.). Dies bedeutet, daß man die Erkenntnisse der Sûfîs nur durch eigene Erfahrungen nachvollziehen kann. So nimmt Ghazâlî eines Tages das Wagnis auf sich, sein bisheriges Leben aufzugeben und sich völlig der Mystik zu widmen. Im weiteren Verlauf sollte Ghazâlî zu einer der wichtigsten Persönlichkeiten für die islamische Mystik, den Sûfismus, werden.

 

5.1. Der Sûfismus

Die Bezeichnung Sûfî ist von dem Wort sûf (Wolle) abgeleitet. Diese Ableitung geht auf die Tatsache zurück, daß es vom 3./9. Jahrhundert an die Gewohnheit der islamischen Mystiker war, weiße Wollgewänder zu tragen. Der Sûfismus führt seine Wurzeln auf den Propheten selbst zurück:

“Wer im Westen den Islam studiert und an das traditionelle Bild Muhammads gewöhnt ist, wie es sich in Hunderten von Jahren des Hasses und der Feindschaft in der christlichen Welt entwickelt hat, wird erstaunt sein, die starken mystischen Qualitäten zu sehen, die diesem Manne in der Sufi-Tradition zugeschrieben werden (...).”[72]

   Diese mystischen Qualitäten zeigen sich z.B. in verschiedenen Überlieferungen, die zeigen, welche Wichtigkeit der Prophet dem Gebet und insbesondere dem Gebet in der Nacht beimaß. Auch einige der Gefährten des Propheten sind in der sûfischen Tradition zu wichtigen Vorbildern geworden, wie z.B. Salmân al-Farisî, der in den Haushalt des Propheten aufgenommen und daher zum "Modell der geistigen Adoption und mystischen Initiation" [73] wurde.

   Mit der Ausbreitung des Islams im Irak und Iran kamen zur islamischen Gemeinschaft viele Menschen hinzu, die Kontakt mit der mystischen Tradition des Christentums hatten. Der Mystizismus im engeren Sinn entwickelte sich hauptsächlich unter den Nichtarabern. Zu den ersten Sûfîs, die besonders den Aspekt der Askese stark betonten, gehörte Hasan al-Basrî (st. 110/728). In einer Zeit, in der durch die Ausdehnung des islamischen Reiches der Reichtum immer größer wurde, erinnerte er die Menschen immer wieder an die Tatsache, daß sie diese Welt doch einmal verlassen müssen: "Sei mit der Welt, als ob du nie da gewesen wärest, und mit dem Jenseits, als ob du es nie verlassen würdest."[74]

   Eine weitere wichtige Persönlichkeit unter den frühen Sûfîs ist Râbi'a (st. 185/801). Sie wird im allgemeinen als diejenige angesehen, die das Element der selbstlosen Liebe in die herbe Lehre der frühen Asketen einführte und damit den Sûfismus in echte  Mystik verwandelte. [75]

“Rabi'as Gottesliebe war absolut. Es war kein Raum mehr für irgendeinen anderen Gedanken, irgendeine andere Liebe. Sie heiratete nicht, auch gab sie dem Propheten keinen besonderen Platz in ihrem Frömmigkeitsleben. Die Welt bedeutet ihr nichts. Sie schloß die Fenster im Frühling, ohne die Blumen zu betrachten, und verlor sich stattdessen in der Kontemplation dessen, der Blüten und Lenz geschaffen hat.” [76]

   Diese Liebe um der Liebe willen wurde schließlich zum Mittelpunkt des Sûfismus. Weitere wichtige Sûfîs im 3./9. und 4./10. Jahrhundert waren al-Dschunaid (st. 298/910) und al-Hallâdsch (st. 309/922). Der letzere wurde aufgrund seines Ausspruchs Anna al-haqq (Ich bin die Wahrheit) [77] unter dem Vorwurf der Häresie hingerichtet. Tatsächlich war jedoch eher eine politische Auseinandersetzung der Hintergrund für diese Hinrichtung.[78]

   Während des 4./10. und 5./11. Jahrhunderts war die Mystik zu einem Teil des alltäglichen Lebens in der islamischen Gesellschaft geworden. Der Sûfismus war keine isolierte und vom alltäglichen Leben abgetrennte Bewegung; es existierten zwar Sûfî-Klöster, in denen sich kleine Gruppen organisierten, aber gleichzeitig gab es eine erstaunlich hohe Anzahl von 'Ulamâ', von denen biographische Berichte sagen, sie seien Sûfîs gewesen.[79] Watt vermutet, daß die Tatsache, daß der Sûfismus im 4./10. und 5./11. Jahrhundert immer bedeutender wurde, mit der Stellung und den Einflußmöglichkeiten der Gelehrten zu tun hat. Die Gelehrten waren in dieser Zeit in ihrer Freiheit stark eingegengt und zu einem hohen Grad abhängig von der jeweiligen Regierung. Diejenigen unter ihnen, die ein echtes spirituelles Bedürfnis hatten, waren dem Sûfismus (der sich immer zur herrschenden Schicht in Opposition gesehen hatte) sehr zugeneigt. Im öffentlichen Leben war es schwierig, spirituelle Bedürfnisse zu befriedigen, so daß es unter diesen Umständen verständlich ist, daß sich die Spiritualität vor allem in der Kultivierung des inneren Lebens ausdrückte. [80]

   Lange Zeit ging man davon aus, daß zwischen den beiden Gruppen der Sûfîs und der 'Ulamâ' eine relativ strenge Trennung, wenn nicht sogar eine gewisse Feindschaft bestand. Malamud hat am Beispiel von Nîšâpûr gezeigt, daß dies nicht der Fall war:

“Clearly, in Nishapur Sufis were not ad odds with the ulema, rather they were often themselves members of the ulema. As an old and established communal association, the Shafi'i school provided Sufism with an institutional framework in which mysticism could be taught and practiced.” [81]

   Da man innerhalb des Erziehungssystems mehr daran interessiert war, wer für die Lehre verantwortlich war, als was gelehrt wurde, waren in Nîšâpûr sogar in der Ausbildung sûfische Inhalte vertreten. So wurden sûfische Texte und hadith-Sammlungen mit spezifisch sûfischer Tendenz rezipiert.[82] Es war also für Ghazâlî ein leichtes, sich mit den Lehren der Sûfîs vertraut zu machen und mit ihnen Umgang zu pflegen.

 

5.2. Ghazâlîs Krise und sein Abschied aus Baghdâd

Wie Ghazâlî im Munqidh beschreibt, wurde er sich durch die Auseinandersetzung mit den Lehren der Sûfîs darüber klar, daß es nur für den, der die Bindungen an die diesseitige Welt aufgibt, eine Hoffnung auf Glückseligkeit im Jenseits gibt. Als er sich daraufhin seine eigenen Lebensverhältnisse betrachtet, findet er sich in Bindungen verstrickt, die ihn "von allen Seiten erfassten" (Der Erretter, S.42.). Er überprüft nun seine eigenen Ziele und Motive und kommt zu einem vernichtenden Ergebnis: Seine Arbeit an der Nizâmîya erscheint ihm im Hinblick auf den Weg zum Jenseits als nutzlos und unbedeutend, den Beweggrund für seine Lehrtätigkeit findet er im Streben nach Ruhm und Ansehen anstatt nach Gottes Wohlgefallen. Es wird ihm klar, daß er seine Lebensweise ändern muß, um nicht an den "Rand eines Abgrundes zu geraten" (Der Erretter, S.42). Nachdem er zu dieser Erkenntnis gekommen ist, führt er einen sechs Monate währenden Kampf mit sich selbst - zwischen den Anziehungskräften des Diesseits und den Forderungen des Jenseits. Dieser Kampf wird schließlich dadurch entschieden, daß er seine Sprechfähigkeit verliert:

“In diesem Monat wandelte sich die Sache von einer Angelegenheit der freien Entscheidung zu einer des Zwangs. Denn Gott ließ meinen Mund verstummen, so daß ich an meiner Lehrtätigkeit gehindert wurde.” (Der Erretter, S.43)

   Unter dem Eindruck dieses Ereignisses wird es Ghazâlî nun leicht, seine Stellung aufzugeben, seine Familie zu verlassen und aus Baghdâd wegzugehen. Er gibt vor, die Pilgerfahrt machen zu wollen und bereitet heimlich seine Abreise nach Damaskus vor. Als Grund für diese Heimlichkeiten gibt er an, daß er sonst den Angriffen der religiösen Führer im Irak ausgesetzt wäre, von denen keiner ein religiöses Motiv für seine Abreise gelten lassen würde, da doch seine Stellung die höchste in der Religion sei. Außerhalb des Irak kam die Vermutung auf, die Furcht vor den damaligen Herrschern sei der Grund für seine Abreise gewesen.

   Dies ist eine These, die auch noch heute in der Forschung in Erwägung gezogen wird. Nach dem Tod Malik Šâhs stritten sich Barqyârûq und dessen Onkel Tutuš um das Amt des Sultans. Ghazâlî stand dem Kalifen nahe, der sich für Tutuš erklärt hatte,[83] aber nach dessen Hinrichtung durch Barqyârûq war der Machtkampf zu Gunsten des letzteren entschieden. Aufgrund der zeitlichen Nähe dieses Ereignisses mit der Abreise Ghazâlîs (Tutuš starb Anfang 488/1095) so wie auch zwischen Barqyârûqs Tod (498/1105) und der Rückkehr Ghazâlîs (18 Monate danach), wird von manchen Forschern angenommen, daß es einen Zusammenhang gibt. Allerdings werden diese Ereignisse zumeist nicht als der aussschlaggebende Grund, sondern nur als zusätzliche Motivation in Betracht gezogen, so z.B. von Brockelmann: "Vielleicht hatte auch der Konflikt zwischen dem Sultân Barqyârûq und seinem Oheim Tutuš den Entschluss, seinem Amt zu entsagen, beschleunigt [84] Watt hält dieser These das Argument entgegen, daß Ghazâlî, wenn er gewollt hätte, sein Verhältnis zu Barqyârûq leicht hätte verbessern können, da dieser gute Beziehungen zu Fahr al-Mulk, dem Sohn Nizâms al-Mulk hatte. Fahr al-Mulk ist derjenige, auf dessen Anfrage Ghazâlî später seine Lehrtätigkeit wieder aufnahm. Es ist allerdings durchaus möglich, daß diese Auseinandersetzungen Ghazâlî noch stärker seine weltlichen Verstrickungen zu Bewußtsein haben kommen lassen, so daß dies seinen Entschluß vielleicht bestärkte.

   Eine andere Erklärung für den Aufbruch Ghazâlîs gibt Jabre. Seiner Ansicht nach war das Hauptmotiv die Furcht vor einer Ermordung durch die Bâtinîya.[85] Nun war Ghazâlî tatsächlich einer der schärfsten Gegner der Bâtinîya und kann deshalb auch gefährdet gewesen sein, ähnlich wie Nizâm al-Mulk drei Jahre zuvor (Ramadân 485/Oktober 1092) durch die Nizârîya ermordet zu werden. Es ist jedoch fraglich, - so argumentiert Watt - ob Ghazâlî überhaupt Anlaß gehabt hätte, eine solche Befürchtung zu haben, denn der politische Mord konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht als charakteristisch für die Batinîya angesehen werden, da die meisten Attentate später stattfanden.[86] Tatsächlich war die Gefahr für ihn viel größer, als er seine Lehrtätigkeit in Nîšâpûr wieder aufnahm, denn zwei Monate danach wurde Fahr al-Mulk von der Nizârîya ermordet. Zum zweiten wäre eine solche Argumentation zwar eventuell eine Erklärung für Ghazâlîs Weggang aus BaÈdÁd, nicht jedoch für die Tatsache, daß er danach zehn Jahre als Sûfî lebte, in strenger Askese und Weltabgeschiedenheit.Jabre argumentiert hier, daß Ghazâlîs Wunsch nach Weltabgeschiedenheit echt gewesen sei, daß dieser Wunsch aber auch befriedigt hätte werden können, ohne von Baghdâd wegzugehen und das Lehramt aufzugeben. Für die Abreise müsse demnach eine andere Motivation entscheidend gewesen sein, und dies sei die Angst um sein Leben gewesen.[87] Nach seinen eigenen Angaben hatte Ghazâlî jedoch Angst vor der Hölle, nicht vor dem Tod, und eine Ermordung durch die Batinîya hätte nur den Märtyrertod bedeutet, der ihm den Eintritt ins Paradies verschaffen würde.[88] Auch kann man wohl annehmen, daß es für ihn sehr schwierig geworden wäre, in Baghdâd ein abgeschiedenes Leben zu führen, und sich den Wünschen der dortigen Herrscher zu entziehen.

   Es erscheint gerechtfertigt, solche äußeren Verhältnisse als den entscheidenden Grund für die Aufgabe des Lehramtes auszuschließen und die Motivation im Leben von Ghazâlî selbst zu suchen. Wie bereits gesehen, erachtete er seine Lehrtätigkeit an der Nizâmîya unter dem Eindruck, den der Weg der Sûfîs auf ihn machte, als wertlos. Der Grund dafür ist seine Einschätzung, daß die Theologie, wie sie damals an den Schulen gelehrt wurde, ihre wichtigste Aufgabe vernachlässigt: die Vorbereitung der Gläubigen auf das Jenseits. Der Wert der religiösen Wissenschaften wird von Ghazâlî zwar nicht generell bestritten, wichtig ist für ihn jedoch, daß nicht vergessen wird, daß das Schicksal des Menschen sich im Jenseits erfüllt. Eine Beurteilung der Theologie und der 'Ulamâ' findet sich im ersten Buch von IhyÁ' 'ulûm ad-dîn, dem Buch des Wissens, wo er folgende Punkte festhält: [89]

1)      Das religiöse Wissen seiner Zeit beschäftigt sich nur mit dem Diesseits, insoweit nur weltliche Themen behandelt werden, wie z.B. die Ordnung des Lebens in der Gesellschaft u.ä.. Während sich die Gelehrten in akademischen Spitzfindigkeiten verlieren, vernachlässigen sie ihre wichtigste Aufgabe, nämlich die Gläubigen auf das Jenseits vorzubereiten. So beklagt sich Ghazâlî darüber, daß es Gelehrte gibt, die sich in den seltensten Formen der Scheidung auskennen, dem Gläubigen jedoch nichts über die einfachsten Dinge des spirituellen Lebens sagen können, wie die Aufrichtigkeit Gott gegenüber oder das Vertrauen in Ihn (ihlâs, tawakkul).

2)      Die 'Ulamâ' bewerten ihre Tätigkeit als positiv, indem sie betonen, daß sie eine fard kifâya leisten, also eine Arbeit, die nicht jeder erbringen kann, sondern die von einzelnen Menschen zum Wohl der ganzen Gesellschaft auf sich genommen werden muß. Ghazâlî wendet dagegen ein, daß ein Muslim sich erst mal auf seine persönlichen Pflichten (fard 'ayn) konzentrieren und diese vollständig erfüllen soll, bevor er sich der Allgemeinheit zuwendet. Außerdem gäbe es schon zu viele Menschen, die genau diese Verpflichtung für die Gesellschaft übernehmen wollen, während genügend andere Dinge unerledigt bleiben, wie z.B. die medizinische Versorgung. Er schließt daraus, daß es nicht der Wille, eine Verpflichtung für die Allgemeinheit zu übernehmen, die entscheidende Motivation ist, die so viele dazu treibt, Gelehrte zu werden.

3)      Die Mehrheit der 'Ulamâ' verfolgt eine Gelehrtenkarriere, um Wohlstand, Macht und Ansehen zu erreichen. Ihre Handlungsweise wird von weltlichen Motiven bestimmt. Dieser Punkt ist das Herzstück der Kritik Ghazâlîs. Die Konsequenz ist nämlich, daß es sich bei diesen 'Ulamâ' um Heuchler handelt, die das, was sie predigen, nicht selbst praktizieren.

4)      Ein wahrer Gelehrter sollte nicht mit den Herrschenden verbunden sein, und keine Anweisungen von ihnen akzeptieren. Außerdem sollte er ohne Bezahlung unterrichten, um finanziell nicht abhängig zu werden.

   Wie bereits gesehen, bezieht Ghazâlî im Munqidh einige dieser Kritikpunkte auch auf sich selbst, so z.B. wenn er von seinen weltlichen Verstrickungen spricht. Die Unzufriedenheit mit seiner eigenen Lehrtätigkeit und mit den Verhältnissen unter seinen Gelehrten-Kollegen sind wohl die entscheidenden Faktoren, die seine Krise herbeigeführt haben. Bezeichnenderweise kulminiert diese Krise darin, daß er die Fähigkeit verliert, weiterhin Lesungen abzuhalten - also genau das zu tun, was er schon zuvor als nutzlos erkannt hat.

   Der zweite Faktor ist die Angst um sein eigenes Seelenheil. Auf seiner geistigen Suche ist er weder bei den Philosophen, noch bei den Mutakallimûn fündig geworden. Nun wendet er sich der Mystik zu. Sein Ziel ist, seine Seele zu läutern, seine Gesinnung zu verbessern und "das Herz für die Anrufung des erhabenen Gottes zu reinigen, wie ich dies von der Wissenschaft der Sûfîs gelernt hatte" (Der Erretter, S. 45). Der Grund für Ghazâlîs Einschätzung, daß der Sûfismus der beste Weg für ihn ist, liegt in dessen praktischem Aspekt: Der Sûfismus beschreibt einen Weg, das Verhalten und den Charakter zu verbessern, um schließlich dem Ideal des insân al-kâmil, des perfekten Menschen, vollkommen in Frömmigkeit und Tat, zu entsprechen. Dies ist etwas, das durch die theoretischen Überlegungen der Philosophie oder der Theologie niemals erreicht werden kann.[90]

 

5.3. Ghazâlîs Leben als Sûfî

Bevor Ghazâlî Baghdâd verließ, sorgte er dafür, daß die Erziehung seiner Kinder gewährleistet war und verteilte dann den Rest seines Vermögens. Er begab sich zunächst nach Damaskus, wo er sich zwei Jahre lang aufhielt. "Während dieser Zeit nahmen mich Zurückgezogenheit, Einsamkeit, (religiöse und geistige) Übungen und Kampf (gegen das eigene Ich) voll in Anspruch (...)" (Der Erretter, S. 45). Nach einem Aufenthalt in Jerusalem, wo er sich oft in der Felsenmoschee einschloß (vielleicht, weil er erkannt worden war, und alleine gelassen werden wollte), entschloß er sich, die Pilgerfahrt zu unternehmen, die er im Jahr 489/November/Dezember 1097 absolvierte. Später mußte er sich um die Belange seiner Familie kümmern und zu diesem Zweck wieder in sein Heimtland zurückkehren, was ihn in seinem Streben nach Einsamkeit behinderte:

“Jedoch hatten die Zeitereignisse, wichtige Familienangelegenheiten und die Erfordernisse des täglichen Lebens Einfluß auf die Weise (der Verwirklichung) meines Zieles und störten die Reinheit meiner Einsamkeit, die zu erleben mir nur gelegentlich gelang.”(Der Erretter, S. 46).

   Der Zustand der Zurückgezogenheit dauerte zehn Jahre an. Es ist nicht ganz klar, wo genau Ghazâlî diese Zeit verbrachte, denn mit seiner Angabe 'watan' (Munqidh, S. 38) könnte sowohl der Irak als auch Churasân gemeint sein. Es ist wahrscheinlich, daß er um 493/1099 wieder nach Tûs zurückkehrte und dort ein kleines Sûfî-Kloster (hânqâh) gründete. Von den eigentlichen mystischen Erfahrungen spricht er nur im allgemeinen und vermeidet es, Einzelheiten über seine eigenen Erfahrungen zu berichten:

“Der Anfang des Weges beginnt mit Visionen und Offenbarungen, so daß sie im Wachzustand die Engel und die Geister der Propheten schauen können. Sie hören Stimmen und empfangen segensreiche Botschaften von ihnen. Dann erhöht sich dieser Zustand von dem bloßen Schauen der Bilder und der Symbole zu Stufen, die mit Worten nicht mehr beschrieben werden können. Niemand kann versuchen, dies auszudrücken, ohne daß seine Beschreibung einen klaren Fehler enthält, den er nicht umgehen kann.”(Der Erretter, S. 47.)

   Sicherlich hat Ghazâlî auch selbst ekstatische Erfahrungen erlebt, doch ist dies für ihn nicht das Ziel des Sûfismus. Es geht ihm um eine Lebensweise, welche die Persönlichkeit des Menschen verbessert, um sich auf diese Weise Gott anzunähern. Das letzte Ziel ist ihlâs, also die aufrichtige Ergebenheit gegenüber Gott, und zu diesem Zweck muß sich der Mensch von allen weltlichen Bindungen befreien.

   Wie Ghazâlî sich diesen Weg vorstellt, ist in Ihyâ' 'ulûm ad-dîn (Die Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften) beschrieben, dem Hauptwerk Ghazâlîs, das aus der Zeit seines Sûfî-Lebens stammt. Es ist ein gewaltiges Werk in 40 Kapiteln, das noch nicht vollständig in eine westliche Sprache übersetzt worden ist.[91] 40 ist die Zahl der Geduld und ist oft gleichbedeutend mit 'Vielzahl' und scheint so auf eine unbegrenzte Menge hinzudeuten. Das Werk ist in vier Viertel unterteilt, von denen jedes aus zehn Büchern besteht. Das erste Viertel heißt 'ibâdât, (Dinge, die mit dem Gottesdienst zusammenhängen). Es behandelt die fünf Säulen des Islam (Glaubensbekenntniss, Gebet, zakat, Fasten und Pilgerfahrt), sowie Fragen der rituellen Reinheit u.a.m. Das zweite Viertel behandelt Sitten und Gebräuche ('âdât), wobei Essgewohnheiten genauso behandelt werden, wie die Frage der richtigen Eheführung. Im letzten Buch dieses Viertels wird das Verhalten und die Sitten des Propheten beschrieben, womit dieser im Mittelpunkt des gesamten Werkes steht. Das dritte Viertel behandelt Dinge, die zum Verderben führen (muhlikât), wie z.B. die Folgen von Zorn, Haß und Neid sowie die Laster der Besitzgier, der Heuchelei und des Stolzes. Im letzten Viertel geht es um die Eigenschaften, die zur Erlösung führen (mundschiyât), dies sind die Themen, die man am ehesten von einem Mystiker erwartet: Die Bücher handeln von der Buße, der Geduld, dem Lob Gottes, von Furcht und Hoffnung, von Armut und Enthaltsamkeit, von der Einheit Gottes und dem Vertrauen auf ihn, von Liebe und Sehnsucht, von Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit, von der Selbstprüfung und vom Nachdenken. Das allerletzte Buch handelt vom Tod, womit Ghazâlî deutlich macht, daß das gesamte Leben des Menschen eine Vorbereitung auf den Tod sein sollte:

“Alles, was Ghazzali in den vorausgehenden 39 Kapiteln lehrt, soll nur dem Menschen helfen, ein Leben entsprechend dem heiligen Gesetz zu führen, und zwar nicht, indem er sich ausschließlich an dessen äußeren Buchstaben klammert, sondern indem er seinen tieferen Sinn versteht und sein ganzes Leben heiligt, so daß er bereit ist, dem Herrn zu begegnen, wann immer Er es befiehlt.[92]

   Auch in diesem Werk werden viele Einzelheiten behandelt, die das weltliche Leben des Menschen betreffen, aber diesmal wird bei jedem Punkt dargelegt, inwiefern ein bestimmtes Verhalten für die Weiterbildung des Charakters und die Annäherung an Gott bedeutsam ist: "The Ihyâ' is thus a complete guide for the devout Muslim to every aspect of the religios life - worship and devotional practices, conduct in daily life, the purification of the heart, and advance along the mystic way."[93]

   Dies ist der neue Aspekt, den Ghazâlî in die islamische Theologie einbrachte. "Diese Lehren - 'eine Hochzeit von Mystik und Gesetz' - haben Ghazzali zum einflußreichsten Theologen des mittelalterlichen Islam gemacht." [94]

   Obwohl Ghazâlî sich für den Sûfismus als den bestmöglichen Weg entschloß, war er sich der Gefahren, welche die Mystik in sich bergen kann, bewußt. Manche Sûfîs hatten pantheistische Tendenzen, was Ghazâlîeindeutig ablehnte: "He also, though sympathising with the Sufis, especially on the side of their asceticism, was opposed to Sufistic Pantheism. He conceived God chiefly as an active Will, and not entirely as the Self existent." [95] Er lehnte auch die mystische Vorstellung einer Vereinigung oder Einheit mit Gott ab, wie aus der Beschreibung der mystischen Erfahrungen in seiner Autobiographie deutlich wird:

“Allgemein gesagt führt die Sache zu einer Nähe Gottes, die sich die eine Gruppe annähernd als Innewohnen [hulûl], die andere als Vereinigung [ittihâd] und noch eine andere als Erlangung [wusûl] vorstellt. All dies ist falsch.” (Der Erretter, S.47)

Ein Sûfî, der die Erfahrung der besonderen Nähe Gottes gemacht hat, soll - um falsche Beschreibungen zu vermeiden - nicht mehr sagen, als den folgenden Vers, den Ghazâlî zitiert: "Es geschah, was geschah, / Ich erinnere es nicht / Als Gutes vermut' es / Erfrage es nicht."(Der Erretter, S. 47).

   Der zweite Punkt, den Ghazâlî kritisiert, ist die Vorstellung mancher Sûfîs, daß sie aufgrund ihrer (angenommenen) besonderen Nähe zu Gott die Befolgung der Gesetze als zweitrangig, wenn nicht sogar als unnötig betrachten könnten. Dieser Kritikpunkt kommt auch im Buch des Wissens zur Sprach [96] Ghazâlî will einerseits die mystische Erfahrung in Einklang mit dem göttlichen Gesetz bringen und andererseits das gesetzestreue Leben mit spirituellem Inhalt erfüllen. Man könnte ihn demnach als einen "gemäßigten" Sûfî bezeichnen. Durch seine Lehren hat Ghazâlî den Sûfismus auf eine theologisch unanfechtbare Grundlage gestellt, und dafür gesorgt, daß er auch von der orthodoxen Theologie endgültig anerkannt wurde.

 

5.4. Die Wiederaufnahme seiner Lehrtätigkeit und seine letzten Jahre

Im Dhû l-Qa'da 499/Juli oder August des Jahres 1106 nahm Ghazâlî auf Drängen von Fahr al-Mulk, dem Sohn von Nizâm al-Mulk, seine Lehrtätigkeit wieder auf, und zwar an der Nizâmîya in Nîšâpûr. Fahr al-Mulk war zu dieser Zeit der Wezir des seldschukischen Prinzen Sandschar, dem Gouverneur von Churasân. Während seiner Zeit in Nîšâpûr hat Ghazâlî den Munqidh geschrieben. Sein Entschluß, die Zurückgezogenheit aufzugeben und wieder öffentlich zu lehren, wurde durch eine Überlieferung des Propheten beeinflußt, die besagt, daß zu Beginn jedes neuen Jahrhunderts ein 'Erneuerer der Religion' auftreten wird. Das sechste Jahrhundert der Hidschra stand bevor, und die Freunde Ghazâlîs - bestärkt durch verschiedene Traumerlebnisse - waren sich sicher, daß er dieser Erneuerer sein müsse. Man kann wohl sagen, daß sich diese Einschätzung im Rückblick tatsächlich als zutreffend erwiesen hat. Daß Ghazâlî selbst auch ein solches Ziel hatte, zeigt schon der Titel seines Hauptwerks, die "Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften".

Ghazâlî kehrte also zu seiner Lehrtätigkeit zurück, wobei er jedoch betont, daß das, was er jetzt tut, mit dem was er zuvor getan hat, nichts gemein hat:

“Wenn ich auch (nach außen hin) zur Verbreitung der Wissenschaft zurückgekehrt bin, so weiß ich, daß ich nicht in Wirklichkeit zurückgekehrt bin. Denn Rückkehr bedeutet, zu dem zurückzukommen, was vorher einmal war. Zu jener früheren Zeit aber war ich mit der Verbreitung der Wissenschaft beschäftigt, die mir Ruhm brachte. [...] Jetzt aber verbreite ich eine Wissenschaft, die sich vom Ruhm abkehrt und durch die man erkennt, wie sehr der Stellenwert des Ruhms fällt. Dies ist meine Absicht, mein Ziel und mein Wunsch. [...] Ich strebe danach, mich und andere zu verbessern.” (Der Erretter, S.63.)

   Er blieb jedoch nur drei Jahre in diesem Amt. Aus welchen Gründen er sich so bald wieder zurückzog, ist nicht bekannt. Ob es gesundheitliche Schwierigkeiten waren, ob er er mit seiner neuen Lehre auf Ablehnung gestoßen ist oder ob er fühlte, daß er auf diese Weise sein Ziel doch nicht erreichen konnte, muß dahingestellt bleiben. Irgendwann im Jahr 503/1109 gab er die Lehre zum zweitenmal auf und ging zurück in seine Heimatstadt Tûs. Er schrieb noch ein letztes Werk (Ildschâm) und verstarb schließlich am 14. Dschumâdâ II 505/18. Dezember 1111, nach einer Krankheit. Sein Bruder Ahmad berichtet über den Tag seines Todes: Ghazâlî vollzog die rituelle Reinigung und verrichtete das Morgengebet (fadschr), fragte dann nach seinem Leichtuch und legte es auf seine Augen mit den Worten: "Gehorsam trete ich in die Gegenwart des Königs." Er streckte seine Füße aus, richtete sein Gesicht nach Mekka (qibla) und bevor der Morgen anbrach, war er gestorben.[97]

Teil 6: Ghazâlîs Leistungen

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[72] Annemarie Schimmel: Mystische Dimensionen des Islam. Die Geschichte des Sufismus. München: Diederichs 1995, S.51.

[73] ebd. S.52.

[74] zitiert nach Schimmel: Mystische Dimensionen des Islam. S.55.

[75] Schimmel: Mystische Dimensionen des Islam. S. 66.

[76] ebd. S. 67.

[77] Dieser Ausruf ist wohl als Folge der Erfahrung der unio mystica, der mystischen Erfahrung des Erleben Gottes zu verstehen.

[78] S. Watt: Muslim Intellectual, S. 103f. Ghazâlî selbst hat sich für die Anerkennung der Rechtgläubigkeit von al-Hallâdsch ausgesprochen.

[79] ebd. S. 130.

[80] ebd. S. 132,133.

[81] Margaret Malamud: "Sufi Organizations and Stuctures of Authority in Medieval Nishapur". In: Middle East Studies 26 (1994),

[82] ebd. S. 430, 431.

[83] Watt:Muslim Intellectual, S. 140.

[84] Brockelmann:Geschichte der arabischen LiteraturI, S. 536.

[85] Jabre: "La Biographie et l'oeuvre de Ghazali reconsidérées à la lumière des ÓabaqÁt de Sobki", S. 90-94.

[86] Watt:Muslim Intellectual, S. 83.

[87] Jabre: "La Biographie et l'oeuvre de Ghazali, S. 90ff.

[88] So argumentiert auch Watt: Muslim Intellectual, S. 83.

[89] Die Darstellung folgt Watt: Muslim Intellectual, S. 112-114.

[90] Ceylan: "Al Ghazâlî between Philosophy and Sufism", S. 587.

[91] Eine vollständige Übersetzung ins Englische hätte ungefähr 2 Millionen Wörter.

[92] Schimmel: Mystische Dimensionen des Islam. S. 144.

[93] Watt: al-Ghazâlî. In: EI2,ii, S. 1040 b.

[94] ebd.

[95] Claud Field: Mystics and Saints of Islam. London: Francis Griffiths 1910, S. 120.

[96] J. Obermann: Der Philosophische und Religiöse Subjektivismus Ghazâlî. Ein Beitrag zum Problem der Religion. Wien und Leipzig: Wilhelm Braumüller 1921.

[97] s. Watt: Muslim Intellectual, S. 148.

 

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