Einleitung
Es gibt wohl kaum eine andere muslimische Persönlichkeit, die in ähnlicher Weise wie Ghazâlî sowohl in der islamischen als
auch in der westlichen Welt bewundert wird. Von den Muslimen mit dem Beinamen muhyi ad-dîn (Wiederhersteller des Glaubens) versehen, manchmal sogar als der größte Muslim nach dem Propheten selbst bezeichnet, wird er von westlichen Wissenschaftlern "der originellste Denker und größte Theologe des Islâm"[1] genannt.
Er hat sich mit vielen Bereichen beschäftigt und Bücher über die verschiedensten Themen geschrieben, so daß es nicht möglich ist, ihn einer bestimmten Kategorie zuzuordnen:
“By far the most influential intellectual figure of the second half of the fifth/eleventh century, al-Ghazâlî defies
categorization. Any attempt to label him as a theologian, a jurist, a philosopher, a political theorist, or a mystic is false and futile. He was one of those rare intellectuals who achieved
an independent voice beyond particular sectarian and doctrinal discourses.” [2]
Zu Ghazâlîs Zeit - wie zu fast allen Zeiten - gab es innerhalb des Islams ernste Spannungen und Gegensätze
zwischen den Anhängern der verschiedenen Gruppen. Da war zum einen die Trennung zwischen Sunniten und Schî'iten, die sich im östlichen islamischen Reich in der Gestalt der sunnitischen
Seldschuken und der schî'itischen Ismâ’îlîya gegenüberstanden; da war die philosophische Bewegung des Neoplatonismus der Anhänger al-Fârâbis und Ibn Sînâs, die eine Priorität der
Vernunft gegenĂĽber der Offenbarung postulierten, und es gab die Auseinandersetzungen der verschiedenen theologischen Schulen innerhalb des sunnitischen Islams selbst, die sich oftmals so
feindlich gegenüberstanden, als wären sie nicht Angehörige der gleichen Religion. Die religiösen Gelehrten ('ulamâ') waren zu einem großen Teil mehr mit den Annehmlichkeiten des
Lebens als mit den geistigen und seelischen Bedürfnissen der Gemeinde beschäftigt und verloren sich in juristischen und theologischen Haarspaltereien, die den Bezug zur Realität des Lebens
zunehmend entbehrten. Schließlich gab es noch die Gruppe der Sûfîs, die sich angesichts dieser äußeren Schwierigkeiten der Kultivierung des inneren Lebens widmete und die persönliche
Erfahrung Gottes suchte.
Das umfangreiche Lebenswerk Ghazâlîs beinhaltet die Auseinandersetzung mit allen genannten Gruppen, und er hat
in jedem dieser Bereiche entscheidende Spuren hinterlassen. Charakteristisch für Ghazâlîs Arbeitsweise ist, daß er erst dann zu einer Beurteilung der jeweiligen Gruppe findet, wenn er der
Meinung ist, daß er die Ansichten und Lehren seines Gegenübers vollständig verstanden hat. In seiner geistigen Autobiographie al-Munqidh min ad-dalâl (Der Erretter aus dem Irrtum) [3] hat
er diese Auseinandersetzung Revue passieren lassen. Ausgehend von seiner eigenen Suche nach der wahren Erkenntnis beschäftigt er sich mit den vier verschiedenen Gruppen, bei denen seiner
Meinung nach die Wahrheit - wenn sie überhaupt gefunden werden kann - zu finden sein muß. Diese vier Gruppen sind 1. die Mutakallimûn, 2. die Philosophen, 3. die Bâtinîten [4] und 4. die Sûfîs.
Da dies die vier zentralen Themen in Ghazâlîs Leben sind, konzentriert sich auch die vorliegende Arbeit - neben
den wichtigen biographischen Informationen - in Anlehnung an den Munqidh auf die Auseinandersetzung mit diesen vier Gruppen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daĂź der Munqidh nicht
als eine Chronologie des Lebens von Ghazâlî gelesen werden kann. Es handelt sich vielmehr um eine schematische Darstellung, welche die jeweiligen Themen, mit denen sich Ghazâlî
beschäftigt hat, auch in eine bestimmte zeitliche Reihenfolge stellt, wobei es jedoch in der Realität Überschneidungen gegeben haben muß: "It is primarily an intellectuell apologia,
and for this reason his life has been treated in it schematically rather than chronologically."[5] Deshalb kann auch die Gruppe der
Mutakallimûn, die Ghazâlî in seiner Autobiographie als erstes behandelt, in dieser Arbeit - aus Gründen der inneren Logik - an die dritte Stelle gesetzt werden.
Ghazâlî hat im Laufe seines Lebens nach den Angaben seiner Zeitgenossen an die 100 Bücher und Schriften
verfaßt, so daß eine komplette Darstellung seines Werkes hier nicht möglich ist. Es werden jeweils nur solche Werke genannt und beschrieben, die für ein Thema von größerer Bedeutung
sind. Um die Auseinandersetzung Ghazâlîs mit den genannten Gruppen besser nachvollziehen zu können, werden den einzelnen Kapiteln jeweils einige Informationen über die jeweilige Gruppe
vorangestellt.
Teil 1: Jugend und Ausbildung
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[1] D. B. MacDonald: Al-Ghazâlî, in: EI 1, ii, S. 154 b.
[2] Hamid Dabashi: "Historical Conditions of Persian Sufism during the Seljuk Period". In: Classical Persian Sufism: from
ist Origins to Rumi ed. by Leonard Lewisohn, London: Khaniqahi Nimatullahi Publications 1993, S.145.
[3] Zitate aus dem Munqidh folgen der Übersetzung von Elschazlî. (Ghazâlî, Abû-Hâmid Muhammad ibn-Muhammad al-: Der
Erretter aus dem Irrtum. Aus d. Arab. übers., mit e. Einl., mit Anm. u. Indices hrsg. v. 'Abd Elhamîd Elschazlî, Hamburg: Meiner 1988.) Zitate werden kenntlich gemacht durch die Angabe des Kurztitels (Der Erretter)
mit Seitenzahl im laufenden Text. Angaben nach dem arabischen Text erfolgen ebenfalls im laufenden Text unter dem Kurztitel Munqidh (nach der Ausgabe von Farid Jabre, s. Literaturverzeichnis.).
[4] Es wird noch zu zeigen sein, daß die Aussage Ghazâlîs, auch bei dieser Gruppe die Wahrheit zu suchen, nicht wörtlich zu nehmen ist.
[5] W. Montgomery Watt: Islamic Philosophy and Theology. Edinburgh: University Press 1963, S. 117.
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